Hallo,
Ich habe eben den Beitrag von Chris gelesen Verantwortung.org: Den Balken im Auge haben und irgendwie hab ich mich beim Lesen nicht besonders wohl gefühlt. Hier schreibe ich kurz auf, weshalb.
Das Autofahrerargument habe ich schon von vielen gehört. Trotzdem sitze ich dann bei ihnen im Auto und frage mich, wieso gerade sie dann rechts überholen dürfen, während die anderen ja moralisch verwerfliches tun, wenn sie zu schnell fahren.Wenn ich den Text von Chris lese, kommt in mir ein komisches Gefühl auf, weil der Text letztlich von jemandem geschrieben wurde, der nicht unbedingt besser ist. Allerdings muss ich dann fragen: Wer dürfte denn diesen Text überhaupt schreiben? Diese Forderung nach moralischer Konsistenz klingt oberlehrerhaft, arrogant, von oben herab, eingebildet. Trotzdem habe ich selber schon so oft genau so gedacht und ich behaupte jetzt einfach mal frei heraus, dass das vielen anderen ähnlich geht. - Wo ist also das Problem in diesem Text? Was führt zu meiner Abneigung, obwohl ich inhaltlich intuitiv zu einem großen Teil zustimme?
Konsistent in wessen Welt?
Ich schätze, dass das moralische Orientieren an sich selbst ein wichtiges Problem ist, denn es ignoriert, dass jeder verschiedene moralische Ansprüche hat. Es ist eher unwahrscheinlich, dass mein Handeln in der Welt anderer moralisch konsistent ist, obwohl es in meiner Welt perfekt Sinn ergibt. Es geht hier noch nicht einaml darum, ob meine Entscheidungen oder Handlungen in den Einzelsituationen moralisch sind oder nicht. Denk mal drüber nach, wie viele Menschen du kennst, bei denen du sagen würdest, dass sie moralisch konsistent sind und wie konsistent du dich selber hältst! - Ich kenne kaum jemanden, den ich moralisch konsistenter finde als mich (spontan fällt mir niemand ein). Das ist allerdings für mich kein Zeichen meiner moralischen Überlegenheit, sondern eher ein Zeichen dafür, dass es viel einfacher ist konsistent zu meiner eigenen Weltsicht zu sein als zu der eines anderen. Sicher bin ich für Chris nicht die moralisch konsistenteste Person und wahrscheinlich auch für kaum einen anderen.
Dieses Problem führt dazu, dass es förmlich trivial ist, moralische Inkonsistenzen bei anderen festzustellen, wenn man intuitiv, also mit der eigenen Weltsicht ran geht.
Der Wert der Konsistenz
Ein weiterer Aspekt ist die persönliche Wertigkeit von moralischer Konsistenz. Chris und ich sind beide Menschen, die sehr viel Wert auf ein schlüssiges moralsiches Verhalten legen. Wir messen uns an unseren eigenen moralischen Vorstellungen und gleichen fast jede Entscheidung mit unserem Wertebild ab. Allerdings sind nicht alle Menschen so. Was ist mit Menschen, die sich und ihre Umwelt nicht in dem Maße reflektieren, wie wir das tun (völlig unabhängig davon, was dafür die Gründe sein mögen)? Diese Menschen stellen moralische Inkonsistenzen möglicher Weise gar nicht erst fest, was dazu führt, dass sie der Forderung im Fazit aus Chris Artikel vielleicht einmal durch Zufall nachkommen, aber nicht bewusst. - Ist dieses Fazit also wirklich irgeneine allgemeine Wahrheit oder ist es vielleicht doch eher eine Wahrheit in der speziellen Welt des Autors und hätte eher so formuliert werden müssen? "ICH kann nicht von anderen fordern, Maßstäbe einzuhalten, die ICH selbst nicht einhalte!"
Gerade bei Unvermögen wird die Forderung schnell problematisch. Wie weit ist das Fazit - "man kann nicht von anderen fordern, Maßstäbe einzuhalten, die man selbst nicht einhält" - von dieser Aussage entfernt? "man darf von niemandem Schutz fordern, wenn man selbst niemanden beschützt!" - Ist schlussendlich diese implizite Forderung nach moralischer Konsistenz selbst unmoralsich? - Das wohl eher nicht. Allerdings führt das Problem dazu, dass die Forderung schnell in Ignoranz endet, weil sie die Augen nicht wirklich auf das Gegenüber richtet.
Kontext der Konsistenz
Wenn ich also näher drüber nachdenke, finde ich es letztlich völlig legitim von anderen Dinge zu fordern, die ich nicht selbst erbringe oder erbringen kann. Es ist in meinen Augen dann legitim, wenn der andere diese Verantwortung dafür freiwillig angenommen hat, was mich noch zu einer weiteren Betrachtung führt:Wer also z.B. ein Amt antritt, in dem moralische Konsistenz implizit eine große Rolle spielt (z.B. Lehrer), muss in diesem Kontext auch der Moral die er vertritt entsprechen, weil er diese Verantwortung freiwillig auf sich genommen hat. Ein Lehrer kann eben nicht vor den Schülern kiffen, und Drogenfreiheit predigen. (Auch hier geht es nur um konsistenz, nicht um echte Inhalte.) Es ist also auch sehr vom Kontext abhängig, ob die moralische Konsistenz relevant ist oder nicht.
Fazit!
Ich habe nun drei Punkte benannt, die der Wahrheit in der Forderung und dem Konzept von moralischer Konsistenz nach Chris Formulierung entgegenstehen.
1. Es kann nur eine Konsistenz des Menschen in sich geben, die von außen schwer zu messen ist.
2. Moralische Konsistenz macht nur bei Menschen Sinn, denen sie auch wichtig/möglich ist.
3. Ich finde, moralische Konsistenz sollte nur in einem freiwilligen Verantwortungskontext gefordert werden.
Insgesamt hat das Fazit, die Wahrheit aus Chris Beitrag nur einen sehr engen und dazu noch problematischen Wirkungsbereich. Man muss sich also mit dem Bewerteten auf einen klaren Betrachtungskontext einigen, wenn man wirklich fair und belastbar über die Umsetzung seiner Moral reden möchte.
Bspw. kann man einen Politiker natürlich an seinen Aussagen (Wahlversprechen) messen, da diese Aussagen quasi eine implizite Einigung zur Nutzung als Bewertungsgrundlage darstellen. Allerdings ist es dabei wichtig, dass ich mich an dieser Stelle von meinen eigenen möglichen Interpretationen seiner Aussagen distanziere. Zumindest, wenn ich ihn über eine eventuelle Inkonsistenz überführen möchte. Das hat selbstverständlich nichts mit meiner inhaltlichen Meinung zu seinen Aussagen zu tun, die unabhängig davon ja ihr Gewicht nicht verliert.
Die zu starke Verallgemeinerung führt demnach also unweigerlich zu einer moralisch schwierigen Argumentation. Mein unbehagen kommt also daher, weil ich die einzelnen Beispiele von Chris in den meisten Fällen durchaus unterstreichen konnte, da sie jedes für sich einen recht klar messbaren Kontext hatten. Die mit den Beispielen unterlegte Verallgemeinerung allerdings kann kaum vermeiden, den Eindruck von Überheblichkeit zu vermitteln.
Ich danke vielmals fürs Lesen und freu mich auf Kommentare ;)
Dave
Klarstellung
Nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: Ich möchte mit diesem Artikel nicht ausdrücken, dass ich es falsch fände moralisch konsistent zu sein. Es kann sehr hilfreich sein, wenn man ein sehr reflektierter Mensch ist oder es eben die Aufgabe oder der Verantwortungsbereich - allgemein der Kontext - gebietet.
AntwortenLöschenEs ist eher unwahrscheinlich, dass mein Handeln in der Welt anderer moralisch konsistent ist, obwohl es in meiner Welt perfekt Sinn ergibt.
Das ist ja das tolle an kognitiver Dissonanz. In dem Moment, wo wir sie bei anderen feststellen, wirkt sie ja auch bei uns selbst. Das muss man sich halt immer wieder klar machen, dass man sich selbst regelmäßig bescheißt. So funktioniert das Gehirn.