Als junger Deutscher in der dritten Generation der Bundesrepublik fragt man sich bisweilen auch 2011 noch, wie es die Bürger in der Weimarer Republik eigentlich so weit kommen lassen konnten: jahrelang wählten sie derart chaotisch und launenhaft, dass keine stabilen Regierungsverhältnisse zustande kommen konnten. Und da sie ihrem selbsterwählten Leiden dann überdrüssig wurden, wählten sie ausgerechnet die Nationalsozialisten, deren "Ordnung" dann einen sehr endgültigen Sinn hatte. Mit den bürgerlichen Freiheiten der ersten deutschen Republik war es schnell vorbei und ebenso mit dem kurzen Frieden für das Land und seine Nachbarn.
Heute bekommen wir erneut anschaulichen Unterricht darin, wie eine freiheitliche, liberale Demokratie der - um es prosaisch auszudrücken - barbarischen Finsternis von Unterdrückung, Angst und Verfolgung der eigenen Gesellschaft entgegen treibt. Keineswegs braucht man sich hierbei um die saturierte und gemäßigte deutsche Demokratie zu sorgen. Nein, wir sprechen von der - noch - größten Demokratie der Welt, den Vereinigten Staaten und ihrem nun seit zehn Jahren währenden Weg ins Dunkel. Denn seit dem 11. September 2011 haben sich die politische Rechte des Landes und viele hundertausend erzkonservative, von Hass und Furcht erfüllte Bürger aufgemacht, das einst freiheitliche Land umzubauen. Vor 9/11 war der Islam in dem von hunderten religiösen Gruppen durchsäten Land für Regierung und Gesellschaft eine große Religion unter vielen anderen. Nach dem Anschlag wurde der Islam von den Rechtskonservativen zur gesellschaftlichen Zielscheibe gemacht und alle Muslime geraten seither ins Fadenkreuz des mächtig gewordenen Heimatschutzministeriums - einer Behörde, für die mittelbar inzwischen fast eine Million Beschäftigte arbeiten und die mit dem unvorstellbar großen finanziellen Background von einer Billion Dollar in diesen zehn Jahren nun die eigene Bevölkerung überwacht. Mit dem pauschalen Verweis auf den Heimatschutz und die nationale Sicherheit hat zunächst die Bush-Administration umfangreich die Bürgerrechte ausgehebelt, was durch Obama keineswegs rückgängig gemacht wurde. Im Gegenteil gewöhnt sich der schrumpfende Bevölkerungsanteil weisser Amerikaner immer stärker an die umfassenden Zugriffsmöglichkeiten des Staates, da diese ja hauptsächlich ärmere, Nicht-Weiße, Nicht-Christen treffen und sie sich selbst auf der Gewinnerseite des Spiels "Wir tauschen echten Freiheit gegen vermeintliche Sicherheit" wähnen. Stattdessen baut das Land einen behördlichen Überwachungsapparat mit einer Machtfülle auf, von dem so mancher Diktator in den letzten 50 Jahren nur träumen konnte: vollständige Überwachung der Kommunikation, verdachtsunabhängige Verhaftungen, zeitlich nahezu unbegrenzte Untersuchungshaft und in letzter Konsequenz auch die Foltergefängnisse Guantanamo, Abu Ghuraib und Bagram.
Zudem führt das Land seit zehn Jahren Kriege an mehreren Fronten: nach den bedingt erfolgreichen Kriegen in Afghanistan und im Irak ist die amerikanische Gesellschaft langsam und schleichend in den Krieg gegen die eigenen Lebensweisen und Teile der eigenen Bevölkerung eingestiegen. Wo vor 20 Jahren Dialog, Vielfalt, Multikulturalität und freie Entfaltung der Weltanschauungen Grundfesten des amerikanischen Diskurses darstellten, bestimmen heute rechtsextreme Hassprediger das öffentliche Meinungsbild der christlich-fundamentalistischen Konservativen. Zu denen gehören auch Teile der republikanischen Partei. Sie alle spalten die Gesellschaft mit maßloser Kompromisslosigkeit. Nicht zur christlich-weissen Bevölkerung zu gehören, macht einen Menschen heute in ihren Augen per se verdächtig. Die Rechtsextremen agitieren gegen Muslime, gegen Andersdenkende, gegen Homosexuelle, gegen alle mit einem anderen Lebensstil als dem ihren. Und was ist das von ihnen eingerichtete Gegängnis für rechtlose Gefangene namens Guantanamo anderes als die im Maßstab geschrumpfte Vorstufe zum Konzentrationslager?
Die Vereinigten Staaten sind auf dem Weg zur Weimarer Republik: ein von gesellschaftlichen Grabenkämpfen erschüttertes politisches System, in dem die Fähigkeit zum Kompromiss als Schwäche gilt. In dem von Demagogen die Vielfalt der Gesellschaft zu Gegensätzen zwischen Bevölkerungsgruppen stilisiert und Ängste geschürt werden, um daraus Aufmerksamkeit, Machtgewinn und nicht zuletzt finanzielle Vorteile zu schöpfen. Wir Deutschen wissen, wohin ein solches Klima führt. Amerika lernt diese Lektion nun offenbar auch, denn wer Wind sät, wird Sturm ernten. Sicherlich nicht in derselben schrecklichen Konsequenz und Bösartigkeit wie unser Land, aber auf diesen Weg reichen schon wenige Schritte, um ein weiteres Reich des Bösen zu errichten. Und Amerika ist da schon in voller Fahrt.
P.S. Nach dem Schreiben dieses Beitrags habe ich noch diesen lesenswerten Essay in der ZEIT aus 2003 gefunden: http://www.zeit.de/2003/26/Essay_Winkler
Notwendige Korrektur: Die größte Demokratie der Welt ist noch immer Indien.
AntwortenLöschen@anonym: für Formaljuristen mag Indien das sein, aber auch nur, wenn man nach der Bevölkerung geht - was einfach nicht genug ist. "Größe" bezieht sich in diesem Kontext auf eine Kombination vieler Faktoren, zu denen politische, gesellschaftliche und militärische Macht, Strahlkraft, Einfluss, BIP und Bevölkerung gehören. Da befindet Indien global immer noch nicht unter den Top 10.
AntwortenLöschenAußerdem ist Indien nur dem Namen nach eine Demokratie und im eigentlichen Sinne eher eine Oligarchie.