Es ist noch nicht so, als würde Deutschland mit seinen 81 Millionen Einwohnern von Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt überrannt. Aber die Zahlen steigen, schon seit Jahren (hier eine knappe, informative Übersicht des BAMF). In 2013 127.023, dann 2014 schon 202.834 und in 2015 bisher 179.037. Also mit erwartbaren 400.000 Menschen in diesem Jahr. Und die Anzahl der Flüchtlinge wird weiter steigen.
Schaut man sich die aktuellen Herkunftsländer an, fällt ins Auge, dass Syrien ganz vorne liegt. Dahinter kommen Kosovo, Albanien und Serbien. Die afrikanischen Länder machen relativ wenig aus, was aber vor allem daran liegt, dass die Flüchtlinge aus Afrika in den südeuropäischen Ländern, allen voran Italien, Griechenland, Frankreich und Spanien hängen bleiben und sie die Hauptlast der Immigranten tragen.
Zunächst muss man sich klar machen, warum Menschen aus ihrer Heimat fliehen: das hat nämlich so gut wie ausschließlich damit zu tun, dass sie dort nicht mehr leben können. Kein Mensch verlässt sein Heimatland, nur weil es einem anderen Land besser geht. Im Falle Syriens ist die Ursache der Bürgerkrieg, im Falle der Balkanstaaten sind es deren dysfunktionale Gemeinwesen, die ihren Bürgern die Luft zum Atmen nehmen, sei es durch Korruption, Verbrechen oder einfach der Abwesenheit jeglicher staatlicher Ordnung. Im Falle der afrikanischen Länder gelten beide oben genannten Gründe. Hinzu kommt der Klimawandel, den nicht sie selbst, sondern die westliche Welt verursacht hat. Der Klimawandel macht ihre Länder zunehmend unfruchtbar, lässt sie zu Wüsten werden und treibt die Menschen woanders hin. Zu uns.
Warum entscheiden sich die Flüchtlinge dafür, nach Europa und nicht etwa woanders hin zu kommen? Nun, sie fliehen ja auch woanders hin. In die Türkei, nach Jordanien, nach Ägypten, nach Pakistan, in den Iran oder sonstwo hin. Aber eben auch nach Europa. Und das, weil der gesamte Kontinent aus der Perspektive einer syrischen Familie, deren Stadt gerade so zerbombt wurde, wie die deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg, aussehen muss wie der Garten Eden. Der Ländervergleich Syrien - EU geht derart zu Gunsten Europas aus, dass man hier nur den Vergleich zwischen Himmel und Hölle ziehen kann. Man darf sich wundern, dass überhaupt noch Menschen in Syrien geblieben sind.
Und wir sind selbst schuld daran, dass sie zu uns kommen. Denn Deutschland und die EU haben im letzten Jahrzehnt zwei große Fehler gemacht:
1. Die EU betätigt sich in ihrer geographischen Nachbarschaft zu wenig ordnend. Sie greift viel zu wenig außerhalb ihres Territoriums ein und wenn, dann eher an den falschen Stellen. Wir hätten in Syrien eingreifen müssen und uns nicht von Russlands Veto im Sicherheitsrat der UN daran hindern lassen dürfen (die EU kann und darf den in seiner seit 25 Jahren in seiner Struktur überholten Sicherheitsrat nicht länger als Feigenblatt benutzen, sich feige zu verhalten. Sie muss ihn ignorieren). Die EU muss auch stärker in Nordafrika eingreifen, hier jedoch erheblich ziviler Natur statt militärisch. Sie müsste in Wiederaufforstungsprogramme investieren, in die Zivilgesellschaft, in Entsalzungsanlagen, in Energieprojekte für Solar-, Wind- und Wärmekraftwerke. Sie müsste der europäischen Wirtschaft mit breitem Schwert eine Schneise in die korrupten Regime der Region schlagen und dafür sorgen, dass die Bürger dieser Länder die Hoffnung haben können, dass sie ihr Schicksal auch in Nordafrika erfolgreich bestreiten können. Es sind ja nicht die schlechten Lebenumstände an sich, die die Menschen zur Flucht treiben, es ist die Hoffnungslosigkeit, dass nichts besser werden wird. Die EU muss auch die Balkanstaaten stärker anleiten, sich eine demokratisch-rechtstaatliche Ordnung zu geben und diese auch umsetzen zu können. Unterstützung im Kampf gegen Korruption und Verbrechen sind wichtige Ansatzpunkte, um diese Länder an die EU heranzuführen.
Die EU muss die Rolle eines ordnenden Hegemons in einer politischen Welt einnehmen, die um sie herum chaotisch ist und eher noch chaotischer wird. Sie kann sich dabei auf ihre nächsten Nachbarn beschränken und muss keinen Anspruch auf globale Führung erheben, wie es andere Nationen tun. Aber in ihrer Umgebung muss sie in die Pflicht gehen.
2. Die EU hat keine koordinierte Flüchtlingspolitik, weder nach innen noch nach außen. Nach innen muss die EU endlich die unselige Regel des Dubliner Übereinkommens abschaffen, nach der Flüchtlinge in die EU nur dort Asyl beantragen können, wo sie in die EU eingereist sind, also letztlich nur in den Ländern mit den relevanten EU-Außengrenzen. Alle mittel- und nordeuropäischen Ländern gehören hier de facto nicht dazu und diese Praxis ist an sich ungerecht. Natürlich sollen durch diese Regel diejenigen EU-Länder mit Außengrenzen motiviert werden, eine strikte Kontrolle dieser Grenzen durchzuführen. In der Realität lassen sich mehr als 14.000 Kilometer Landgrenze und tausende Kilometer Seegrenzen nicht mit vertretbarem Aufwand hermetisch abschotten. Zum einen braucht die EU also eine effektive, gemeinschaftliche Grenzkontrolle. Der weitere Ausbau von FRONTEX kann hier helfen, ebenso die Erkenntnis, dass die Sicherung von Außengrenzen eine europäische Aufgabe geworden ist und nicht länger eine nationale. Zum anderen muss die EU innergemeinschaftlich die Lasten der Flüchtlingsangelegenheiten gerecht und sinnvoll auf alle Mitgliedsländer verteilen, realistischerweise anteilig nach Bevölkerung und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Und schließlich müssen die europäischen Länder ihre Flüchtlingspolitik so abstimmen, das Flüchtlinge mit einem gerechten und annähernd gleichen Verfahren rechnen können, egal in welchem Land sie gelandet sind. Diesen Anspruch muss die EU an sich selbst haben, dass sie innerhalb ihrer Grenzen Gerechtigkeit herstellen kann.
Ja, für all das müsste die EU Geld in die Hand nehmen. Und zwar viel davon. Milliarden. Die Alternativ ist, dass die Flut der Flüchtlinge in die EU steigt und zwar in bislang noch nicht gekannte Größenordnungen. Die Bevölkerung Afrikas und des Mittleren Ostens wächst trotz aller Krisen und somit auch der innere Druck zur Emigration. Die Zahlen des Jahres 2015 werden sich wie ein Witz ausnehmen, gegen das, was noch kommt. Wenn sich in Afrika und dem Nahen Osten nichts zum Guten ändert, erleben wir heute kein vorübergehendes Ereignis. Sondern nur den Anfang. Ob wir in fünf Jahren mit einer Million Flüchtlinge und in zehn Jahren mit zwei Millionen pro Jahr umgehen werden können, ist fraglich. Nicht, das wir sie angesichts unserer demographischen Entwicklung nicht gebrauchen können. Aber ob wir damit umgehen können, darf bezweifelt werden.
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