Ich kann mich glücklich schätzen. Jeden Morgen wache ich in meinem Bett auf, kann meiner Frau in Ruhe beim Schlafen zusehen, meine Tochter mit ins Bad aufs Töpfchen nehmen, ihr die kleinen Kinderklamotten anziehen, mit ihr Frühstücken und sie zur Kita bringen, in Frieden zur Arbeit gehen und den Tag dort verbringen, am Nachmittag nicht allzu spät nach Hause gehen und dort etwas Zeit mit meiner Familie verbringen um Abends in Ruhe auf dem Sofa ein Buch zu lesen oder etwas fernzusehen und ebenso friedlich einzuschlafen, wie der ganze Tag verlief.
Ich habe keine Sorgen ob ich genug zu essen oder trinken habe, mein Haus bleibt unversehrt, niemand greift mich an, es gibt keine echten Probleme. Von den mehr als sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten ist ein solcher Tagesablauf vielleicht der Hälfte gegönnt. Und nur vielleicht jeder zehnte lebt in denselbem Luxus wie ich: materieller Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Absicherungen in Massen, Freiheit an Leib und Leben.
Und manche Menschen haben noch nicht mal ihr Leben. Und manche davon sind kleine, dreijährige Jungen.
Kleine Jungen, die auf der Flucht aus ihrem zerbombten Land nach Europa ertrinken. Das sich mir beim Anblick des toten Kindes der Hals zuschnürt, ist selbstverständlich. Ich hasse dieses Bild. Ich will mir nicht ausmalen, was dem Kind auf seiner Flucht geschehen ist, so dass sie auf diese endgültige Weise geendet hat. Vielleicht bin ich sentimental. Aber ich bin seit langem nicht mehr so erschüttert worden, wie im Angesicht dieses einen, kleinen Dramas inmitten der großen Tragödie, die sich nun schon seit Jahren vor unserer Haustür entfaltet. Ja, ich wusste, dass im Mittelmeer auch Kinder sterben. Ja, ich wusste dass sie auf der Flucht ertrinken. Ja, ich wusste dass. Aber ich habe es nicht begriffen. Jetzt schon. Und das Gefühl der Hilflosigkeit ist bedrückend. Dieses Bild bekomme ich nicht aus meinem Kopf.
Ich weiß: wir tragen unseren Teil der Verantwortung daran, dass dieses Kind gestorben ist. Wir, das sind Deutschland, Europa und die westliche Welt, wir haben unseren Anteil daran, dass im Mittleren Osten in den letzten Jahren ein Land nach dem anderen in Flammen aufgegangen ist. Wir sind nicht die hauptsächlichen Verursacher, aber wir haben unseren Anteil. Aus Feigheit. Aus Ignoranz. Aus Desinteresse. Und vor allem unsere Regierungen haben dabeigestanden und Maulaffen feil gehalten, als Syrien von Kriegsparteien und mit der breiten Unterstützung Russlands abgefackelt wurde und zehn Millionen Menschen geflohen sind.
Jetzt kommen diese aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen nach Europa, den sicheren Hafen in diesem Teil der Welt. Wohin sollen sie auch sonst? Wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, ihnen diesen sicheren Hafen zu bieten, solange sie ihn brauchen. Wer darüber diskutiert, stellt sich außerhalb der demokratischen-humanistischen Grundordnung dieses Landes. Es mangelt uns an nichts, was zu dieser Menschlichkeit notwendig ist. Wir haben alles, was wir dazu brauchen. Und wir müssen endlich alles tun, was notwendig ist, damit nicht länger Kinder auf der Flucht ertrinken.
Ich ertrage solche Bilder nicht und will sie nicht mehr sehen. In 15 oder 20 Jahren werde ich meinen Kinder erklären müssen, warum wir so etwas zugelassen haben. Sie werden uns zu Recht verurteilen. Schande über uns alle. Schande über die Europäische Union, die nicht genug tun kann, weil die egoistischen Nationalstaaten die Verantwortung wegschieben und keine tatkräftigen Handlungen unternehmen. Schande über die deutsche Regierung, die dem Drama seit Jahren zusieht und sich nicht damit beschäftigen will. Schande über die Politiker in diesem Land, die von Asylmissbrauch und Wirtschaftsflüchtlingen sprechen im Angesicht von Menschen, deren Leben in Stücke zersplittert worden ist. Schande über uns, die wir uns dem dumpfen Rechtspopulismus in unserem eigenen Land nicht laut und deutlich und hart genug entgegenstellen, indem wir die AfD verbieten, die Rechtsextremisten ins Gefängnis werfen und die neuen Nazis isolieren. Schande über uns alle, die wir noch nicht genug für die ankommenden Flüchtlinge tun. Wir können so viel helfen. Wir sind alle dafür verantwortlich.
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