Wer heute in der Suchfunktion der Labertaschen-Plattform Twitter nach dem Tag "notmypresident" sucht, wird reichlich fündig. Zu vieltausenden geben dort netzkundige Bürger kund, das der gewählte Bundespräsident Christian Wulff nicht ihr Präsident sei und überhaupt ist der Mann ja nur durch üble, undurchsichtige und demokratiefeindliche Kräfte ins Schloss Bellevue eingezogen. Die sich so äußernden Twitterer glauben sich damit an vorderster Front des Aufstandes der Anständigen gegen den ach-so-schlechten Politikbetrieb und den ach-so-bösen neuen Bundespräsidenten.
Mit dieser Ansicht kann man nicht ferner der schlichten Wahrheit liegen und sich kaum mehr öffentlich entblöden. Sechs dieser schlichten Wahrheiten möchte ich feststellen:
1. Christian Wulff ist JEDES Deutschen Präsident. Allein der Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten gebietet diese Anerkennung. Der geschiedene Präsident Horst Köhler hat sich - auch - an exakt diesem fehlenden Respekt gestossen und er hatte Recht damit. Das Amt ist machtlos genug und demjenigen, der es bekleidet, gebührt aber auch deswegen Respekt, weil er (oder sie) sich damit quasi ans Ende der politischen Karriere begibt.
2. Das Wulff mit Joachim Gauck einen starken Mitbewerber hatte, ist lebendige Demokratie. Es hat der Wahl schon deswegen gut getan, weil alle Delegierten der Bundesversammlung zwischen zwei echten und sehr wohl geeigneten Alternativen für das Bundespräsidentenamt entscheiden können. DAS ist gelebte, echte Demokratie und sollte das Herz eines Demokraten erfreuen.
3. Wulff ist von der Bundesversammlung ordentlich und am Ende im dritten Wahlgang sogar mit absoluter Mehrheit der Delegierten gewählt worden. An seiner Wahl war nichts anrüchig und es war auch nichts daran in irgend einer Weise undemokratisch. Er hat sich in einem offensichtlich harten Wettstreit durchgesetzt und genau so und nicht anders sollte es auch sein.
4. Wer sich entblödet zu behaupten, der Bundespräsident wäre nicht "sein" Präsident, muss sich fragen, ob wir also statt des Bewerbers mit der meisten Zustimmung der Wahlmänner lieber den Bewerber, der einer bestimmten Bevölkerungsgruppe am liebsten ist, wählen sollten. Deutschland besteht eben nicht nur aus dem Häuflein Twitteruser und den paar hundertausend Facebook-Usern, sondern auch aus Millionen und Abermillionen Menschen, die kaum das Internet nutzen und kennen, keinen DSL-Anschluss haben, sich dafür auch nicht interessieren und in Christian Wulff problemlos einen geeigneten Bundespräsidenten sehen. Es waren - mutmaßlich - diese Millionen, die eben auch Bürger dieses Landes sind, welche die schwarz-gelbe Koalition in Bund und genügend Bundesländern stark genug gemacht haben, so dass diese einen Kandidaten aufstellen wollten und wählen konnten. Auch das ist Demokratie.
5. All die "notmypresident"-Witzbolde sollten sich daher bei Gelegenheit unter der Liste der Herrschaftsformen die für sie geeignete aussuchen und dabei diejenige, bei der die Herrschaft durch "das Volk" geschieht, einfach aussen vor lassen. Sie heißt "Demokratie" und ihre präferierte Herrschaftsform ist es offenbar nicht. Man mag natürlich darüber diskutieren können, ob der Bundespräsident nicht besser vom Volk direkt gewählt werden sollte. Das ist eine legitime, spannende und interessante Diskussion und eine solche Wahlform hätte bisweilen andere Präsidenten hervorgebracht. Tatsache bleibt jedoch, dass die Bundesversammlung auch heute eine sehr unmittelbare demokratische Legitimation hat, ihre Wahlentscheidung also demokratisch genug ist. Jeder wählende Bürger Deutschlands hat auf sie Einfluss gehabt.
6. Insofern haben die Mitglieder der Bundesversammlung gestern weitaus mehr Demokratieverständnis bewiesen, als die Abertausenden von #notmypresident-Netzbürgern heute. Denn die letzteren haben Demokratie nicht verstanden und sie leben sie auch nicht. Zur Demokratie gehört - ja, das ist schwer - auch zu akzeptieren, dass es auch anders gelagerte Mehrheiten als die der eigenen Meinung gibt. Nur ist das eben das große Problem vieler meinungsäußernder Netzbürger: sie verwechseln die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern damit, diese Meinung auch durchgesetzt zu bekommen. Das Erste gehört zur Demokratie, das Zweite zur Politik. Und weder vom Ersten noch vom Zweiten verstehen allzu viele etwas.
P.S. Ich hätte vermutlich Gauck gewählt. Aber Wulff ist kein Weltuntergang. So einfach ist das. Es wichtig, sich VOR einer Wahl zu streiten um sich DANACH wieder gemeinsam versammeln zu können.
Also, zu Punkt 1 muss ich was sagen - ich glaube nicht, dass der Respekt im Volk vor dem Amt des Bundespräsidenten dem guten Horst gefehlt hat, sondern wohl eher der in der Politik.
AntwortenLöschenDie notmy-Geschichte ist natürlich dennoch Unsinn, wobei ich klar sagen muss, dass die parteitaktischen Erwägungen, nach denen Merkel in meinen Augen den Kandidaten Wulff propagiert hat, abstoßend und widerlich waren.
Zuerst sollte es ja wohl Frau von der Leyen sein, die allerdings als Frau etwas von Merkels Nimbus als Frau an der Spitze des Staats (nicht de jure, aber de facto), die das ja sooo toll macht, hätte nehmen können. Also weg. Dann nehmen wir eben einen innerparteilichen Konkurrenten wie den Sportfreund Wulff aus Hannover, der damit für alle Zeiten keine innerparteilichen Schwierigkeiten mehr machen kann.
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Roland Koch nicht vor Köhler seinen Rücktritt angekündigt hätte...
Diese Art der Schacherei um den Kandidaten (die es ja schon öfter gab, dieses Mal nur durch den Zeitdruck verstärkt) beschädigt das Amt in meinen Augen mehr als die paar Twitternutzer.
Mit Deiner letzten Aussage hast Du natürlich Recht. Mir ging es jedoch nicht um den erbärmlichen Zustand von Merkels Regierung, sondern um eben um die Twitternutzer. Es wird eine Dummheit und Idiotie ja nicht dadurch weniger schlimm, dass man mit dem Finger auf jemand anderen zeigt und schreit "der war noch dümmer."
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